Der Klimawandel ist bei Weitem nicht die einzige ökologische Krise, die der Planet aktuell erlebt. Das Artensterben, der Verlust von Biodiversität, hat ebenso tiefgreifende Auswirkungen. Weltweit beträgt die Waldfläche nur noch 68 Prozent im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Die Hälfte der lebenden Korallen ist seit 1870 verschwunden (IPBES: Brondizio et al., 2019), Etwa 40 Prozent der Insektenarten könnten in den nächsten Jahrzehnten aussterben (Biological Conservation: Sánchez-Bayo & Wyckhuys, 2019). Bis zu eine Million Arten sind weltweit vom Aussterben bedroht. Deshalb haben die Vereinten Nationen 2012 ein wissenschaftliches Gremium gegründet. Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) wurde nach dem Vorbild des Weltklimarates eingerichtet, um den Stand der Wissenschaft zusammenzutragen und einzuordnen. 

Nun veröffentlicht der IPBES gleich zwei neue Berichte, zur nachhaltigen Nutzung wild lebender Arten und zu Werten und Wertschätzung der Natur. Vier Jahre lang haben internationale Forschungsteams von jeweils mehr als 80 Wissenschaftlern Tausende Quellen ausgewertet, Fachpublikationen zusammengetragen und das Wissen lokaler und indigener Bevölkerungsgruppen gesammelt. Damit drängen die Forschenden darauf, dass die drohenden Auswirkungen des Artensterbens nicht nur anerkannt werden, sondern endlich auch tiefgreifende politische Entscheidungen nach sich ziehen. Denn die Ergebnisse zeigen deutlich: Durch die fortschreitende Ausbeutung der Natur steht nicht nur das Überleben unzähliger Tier- und Pflanzenarten auf dem Spiel, sondern letztlich auch unser eigenes.

Wir alle sind viel abhängiger als gedacht

Wer in einem Industrieland wie Deutschland lebt und nicht regelmäßig selbst loszieht, um das Abendessen im nächstgelegenen Waldstück zu sammeln oder zu jagen, mag sich die berechtigte Frage stellen, warum wir überhaupt auf wild lebende Arten angewiesen sind. Immerhin haben wir über die Jahrtausende die Zucht ertragreicher Nutztiere perfektioniert und dank moderner Landwirtschaft wachsen unsere Nutzpflanzen auf Feldern und Plantagen, die bis zum Horizont reichen.

Doch der IPBES-Bericht zur nachhaltigen Nutzung wild lebender Arten macht deutlich: Wir alle nutzen und brauchen wilde Tiere, Pflanzen, Pilze oder Algen – wahrscheinlich sogar jeden Tag. 

Zum Beispiel sind Kleidung, Kosmetik und selbst modernste Medizin von der nachhaltigen Nutzung wild lebender Spezies abhängig. Nachwachsende Ressourcen, insbesondere Holz, sind weltweit ein wichtiger Energielieferant und werden als Baumaterial und für die Inneneinrichtung genutzt. Dabei stammen rund zwei Drittel der industriell verarbeiteten Holzressourcen nicht von einer Holzplantage oder der Baumschule in der Region, sondern aus wilden Baumbeständen. Jedes Jahr werden rund 90 Millionen Tonnen Fisch gefangen, der entweder direkt auf unseren Tellern landet oder als Fischmehl weiterverfüttert wird. Der Handel mit wilden Pflanzen und Pilzen ist ein Milliardengeschäft. Und nicht zuletzt ist die verbleibende Wildnis oft Teil unserer Freizeitbeschäftigung – sei es zur Erholung in der Region oder bei der Suche nach Giraffen im Serengeti-Park in Tansania. Laut der Autorinnen des neuen Berichts verzeichneten touristische Angebote zur Beobachtung von Wildtieren vor der Pandemie etwa acht Milliarden Besucher pro Jahr – eine Industrie mit einem Umsatz von rund 600 Milliarden Dollar jährlich.

Der Verlust wild lebender Arten bedroht die Existenz von Milliarden Menschen

Laut Bericht sind es rund 50.000 wild lebende Arten, die Menschen regelmäßig für unterschiedlichste Zwecke nutzen. Wenn diese Populationen schrumpfen oder Krankheiten entwickeln, bekommt das auch der Mensch zu spüren – zuerst diejenigen, die ohnehin in prekären Situationen leben. "Etwa 70 Prozent der Menschen in Armut sind direkt von wild lebenden Arten abhängig. Eine von fünf Personen benötigt wilde Pflanzen, Algen und Pilze für Ernährung und Einkommen", erklärt Marla Emery, Geografin und vorsitzendes Mitglied des Weltbiodiversitätsrats. Besonders betroffen seien demnach indigene Bevölkerungsgruppen sowie überdurchschnittlich viele Frauen und Kinder. 

Wenn Gewässer überfischt werden, Holzressourcen knapp sind oder einige Pflanzen und Pilzarten nicht mehr in ausreichenden Mengen nachwachsen, wird die Lebensgrundlage von Milliarden Menschen bedroht. Etwa 1,1 Milliarden Menschen haben keinen konstanten Zugang zu Elektrizität und sind auf Holz als Energielieferanten angewiesen. Und insgesamt benötigt etwa ein Drittel der Weltbevölkerung Brennholz zum Kochen. Allein in der Fischerei arbeiten weltweit 120 Millionen Menschen, 90 Prozent davon in kleinen Fischereibetrieben. Der Rückgang der Fischbestände setzt diese Menschen enorm unter Druck.