Liebe Leserin, lieber Leser,
„manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum“ so wusste es bereits 1966 der vom Dadaismus beeinflusste österreichische Schriftsteller und Dichter Ernst Jandl in seinem Gedicht „Lichtung“.
Fast sechzig Jahre später hat Jandls Bonmot nichts an Aktualität eingebüßt. Bei den Demonstrationen nach den „Remigrations“-Treffen von Potsdam kam die Frage auf, ob eine Demo „gegen rechts“ statt gegen Rechtsextreme und Rechtspopulisten, nicht konservative Demokratinnen und Demokraten ausschließe und vorverurteile. Beinahe zeitgleich grenzte sich beim CDU-Parteitag in Baden-Württemberg der Vorsitzende aber scharf gegen „die Rechten“ ab.
Unterdessen mischen die überall in demokratischen Gesellschaften boomenden rechtspopulistisch-rechtsradikalen Parteien auch klassisch linke Themen wie die soziale Frage und die Sorge um Krieg und Frieden in ihre rhetorischen Strategien. Spätestens der Krieg in Gaza nach dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel zeigt schließlich, dass offener Antisemitismus und Vernichtungsphantasien gegen Israel auch erschreckend gut zu eher „linken“ Haltungen wie der Solidarität mit vermeintlich und tatsächlich Unterdrückten passt.
In den Debatten um die Migrationspolitik und in der jüngst beschlossenen Verschärfung des gemeinsamen europäischen Asylsystems dringen einst exklusive Grundannahmen und Forderungen von rechtsaußen (wie die pauschale Kriminalisierung von Geflüchteten und der Abbau humanitärer Standards) bis weit in die politische Mitte vor.
Zugleich ist in manchen antirassistischen und postkolonialen Diskursen die Rede von „dem“ Menschen und von allgemeinen Menschenrechten per se verdächtig. Sie gilt nicht mehr nur als oft missbrauchtes, und selten wirklich ernst genommenes Prinzip der europäischen Aufklärung. Sie wird generell abgelehnt als subtiles und verlogenes Instrument westlich weißer Machtausübung. Wenn aber Menschen nicht mehr als Menschen für andere einstehen dürfen, dann müssen sie es auch nicht. So blieben zuletzt Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Religion und sozialer Status doch das einzig Verbindend-Verbindliche.
Noch immer und offenbar jetzt erst recht sind, lechts und rinks leicht zu velwechsern.
In einem aufregenden Essay zur Philosophie Kants, der Geschichte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, zur (längst nicht nur) schwarzen Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre und nicht zuletzt zur biblischen Abrahams-Erzählung, zeigt der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm, dass ohne die Idee einer wirklich allgemeinen Gerechtigkeit nur noch das Recht der Stärkeren gelten kann. Die Innovation des biblischen Gottesbegriffs, so Boehm, liegt nicht darin, dass es nur einen einzigen Gott gebe, sondern darin, dass auch und gerade dieser Gott „einer über ihm stehenden Gerechtigkeit“ verpflichtet sei (ders. Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Berlin 2023, 21).
Wie immer dies theologisch zu denken – und wohl auch zu ergänzen – sein mag, könnte Gegenstand einer künftigen Akademie Tagung werden. Allemal aber verblüfft, wie tief bei Boehm hellwache Gegenwartsanalyse, politisches Denken und die Neugier auf und das Vertrauen in biblische Traditionen verknüpft sind. Und es ermutigt, welch klare menschenrechtliche Orientierung dabei entsteht.
Das Institut für Kirche und Gesellschaft, dessen Leitung ich ab dem 1. April 2024 innehabe, wird sich auch künftig mit seinen Partnerinnen und Partnern entschlossen positionieren, wo die Würde von Menschen und Geschöpfen zugunsten von Gruppen- und Einzelinteressen verletzt und wo die Rede von „dem Menschen“ zum leichtfertigen Lippenbekenntnis wird, das de facto alles beim Alten lassen will. Und es wird dazu aus der Mitte des Glaubens heraus „R“ichtung und „L“ichtung suchen.
Ein hellwaches Pfingstfest und fröhliches Suchen und Finden in den Angeboten unseres, nein ‚Ihres‘ Instituts wünscht
Ihr
Dr. Jan-Dirk Döhling
Institutsleiter und Dezernent für Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen