Liebe Leserin, lieber Leser,
Europa, so weiß es die griechische Mythologie, sei eine entführte phönizische Prinzessin gewesen, in die sich der Göttervater Zeus verliebt und sie gewaltsam entführt, ihr gar sexuelle Gewalt angetan habe, um ihr dann und daraufhin zu verheißen, dass einst ein ganzer Kontinent nach ihr benannt sein werde.
Die Erzählung spricht Bände. Zum einen, weil sie mythisch die auch sprachwissenschaftlich belegte Erinnerung ins Bild setzt, dass die Wurzeln des Konzepts Europa im Nahen Osten liegen. Denn das hinter dem Wort „Europa“ stehende Adjektiv „erebos“ – dunkel, meint das Abendland, blickt also von außen, genauer von Osten her, in die Richtung und auf das Land, wo die Sonne untergeht.
Zum anderen aber auch, weil einmal mehr Länder und hier ein ganzer Kontinent, ins Bild einer wehrlosen Frau gesetzt werden, die mit buchstäblich höherer Gewalt genommen und gefügig gemacht werden kann, entführt und vergewaltigt und der auch ‚Liebe‘ versprochen und eine verheißungsvolle Zukunft beschieden sein soll.
Mit der kommenden Europawahl stehen einmal mehr auch und gerade verschiedene Außenperspektiven auf unseren Kontinent und auf die europäische Union sowie Bilder von Herrschaft und Beherrscht-Werden, Konzepte von Hell und Dunkel und nicht zuletzt auch Geschlechterpolitiken zur Wahl.
Überkommene, hierarchische Männlichkeits-, Geschlechter- und Familienbilder gehören zum programmatischen Kernbestand rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien. Und während für viele Menschen im Nahen und Mittleren Osten und in den Ländern Afrikas Europa mit den Versprechen von Rechtstaat, Freiheit und Demokratie ein heller Hoffnungs- und Sehnsuchtsort ist, verdunkeln sich mit den jüngsten europäischen Entscheidungen die Perspektiven für faire und humane Zugänge zum Recht auf Asyl. Aber auch darüber hinaus hat das Denken in „Drinnen und Draußen“-Kategorien Konjunktur, wobei für viele das Fremde und Andere schon in Brüssel, Straßburg und Luxemburg und bei der Nachbarin mit migrantischen Großeltern zu beginnen scheint.
Unter den vielen Jahrestagen, die in diesem Superwahljahr begangen werden, gehört auch das 25-jährige Jubiläum der Ersten Ökumenischen Versammlung für Frieden und Gerechtigkeit in Basel. Es sei Ihrer (nochmaligen) Lektüre herzlich empfohlen.
„Wir freuen uns auf das Kommen des Gottesreiches, in dem sich Frieden und Gerechtigkeit umarmen und die ganze Schöpfung erneuert wird, und wir sind dankbar für jedes Zeichen der Gottesherrschaft, das schon jetzt unter uns sichtbar wird.“
So heißt es zu Beginn des Schlussdokuments, das dann und von daher auch zur Umkehr aufruft:
„Umkehr zu Gott […] bedeutet heute die Verpflichtung, einen Weg zu suchen […] in eine Gesellschaft, in der die Menschen gleiche Rechte besitzen und in Solidarität miteinander leben; einen Weg […] in eine Vielfalt der Kulturen, Traditionen und Völker in Europa, […] in eine erneuerte Gemeinschaft von Männern und Frauen in Kirche und Gesellschaft; einen Weg zu suchen aus einer Situation, in der der Einsatz des Militärs oder die Drohung, es einzusetzen, notwendig erscheint, um die Menschenrechte zu bewahren oder durchzusetzen, in eine Gesellschaft, in der Friedensstiftung und die friedliche Lösung von Konflikten unterstützt werden, und in eine Gemeinschaft von Völkern, die solidarisch zum Wohl der anderen beitragen; einen Weg zu suchen aus der Trennung zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung […] in eine Gemeinschaft der Menschen mit allen Kreaturen, in der deren Rechte und Integrität geachtet werden.“
Die Impulse der Ökumenischen Versammlung haben nach 25 Jahren nichts an geistlicher Tiefe und hoffnungsvoll-mutiger Gegenwartsanalyse eingebüßt. Sie lesen sich – gerade im Wahljahr 2024 – wie eine Anweisung zum streitbar getrosten Hoffen und Handeln.
Beidem ist das Institut für Kirche und Gesellschaft in seinen Fachbereichen und mit seinen vielfältigen Partner*innen in Kirche und Gesellschaft und mit seinen zahlreichen Veranstaltungen verpflichtet.
Ihr
Dr. Jan-Dirk Döhling
Institutsleiter und Dezernent für Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen