Guten Tag,
in meiner Heimatstadt Siegen wurden am vorletzten Wochenende drei Menschen beinahe bei einem entsetzlichen Messerattentat getötet. Gott sei Dank sind heute alle wieder außer Lebensgefahr. Die Täterin – hieß es – hatte unter Alkohol- und Drogeneinfluss im öffentlichen Nahverkehr um sich gestochen. Zwischenzeitlich war auch von psychischer Erkrankung die Rede.
Gewalt in der Öffentlichkeit erschüttert und macht Angst – auch mir. Menschen wurden brutal verletzt. Verletzt ist auch mein Gefühl, mich angstfrei bewegen, Bus fahren, feiern zu können. Wie kann es heilen, obwohl ich – einmal mehr – erfahre, dass es umfassende Sicherheit nicht gibt?
Über die Motive der Tat ist wenig bekannt. Es gebe, so die Auskunft, keinen politischen, islamistischen und migrantischen Hintergrund; und es klingt wie: „Diesmal nicht ...“.
Mir fällt auf, nach der Tat in Siegen wird keine „Zeitenwende“ ausgerufen. Kein „Es reicht!“. Keine Forderung nach Drogen- oder Alkoholverbot. Schon gar nicht werden weitreichende schnelle Kabinettsbeschlüsse zum Nahverkehr oder zur Sozialpolitik erwartet. Warum auch? Es wäre doch absurd, wegen der einen brutalen Tat pauschal alle zum Debattengegenstand zu machen, die Bus fahren, Alkohol trinken, psychisch krank sind. Unredlich wäre es, das Leid und die Angst zu nutzen, um alles zu wiederholen, was man schon vorher für wichtig und richtig hielt im ÖPNV, im Blick auf Drogen-, Alkohol- oder Frauenpolitik.
Wem Gewalt widerfährt, verdient es, ernst genommen zu werden. Und auch, dass sein oder ihr Leid, nicht für billige Pointen instrumentalisiert wird.
Das gilt für dieses Editorial. Das gilt aber auch für grobe Verallgemeinerungen und fremdenfeindliche Folgerungen, wie sie – anders als bei der Siegener Tat – aus dem Attentat von Solingen, einige Tage zuvor, gezogen werden. Als wäre nicht jede Biografie anders. Und als wären nicht viele Syrier*innen und Afghan*innen auch und gerade vor islamistischer Gewalt geflohen.
„Die sind doch alle gleich – gewalttätige Extremisten“, so lautet die geheime, latent rassistische Voraussetzung. Nur so scheint es, als ließe sich die Frage der Sicherheit mit der Pauschalforderung nach mehr Ausweisungen verknüpfen, nach generellen Leistungskürzungen, Aufnahmestopp und Zurückweisungen von Asylsuchenden. Politisch redlich, fair oder auch nur sachlich richtig indes ist eine solche Verknüpfung nicht.
Öffentliche Gewalt erschüttert – auch die politische Kultur. Die Kirche ist dem Evangelium und so dem Schutz der Menschenwürde und der Gleichheit aller verpflichtet. Genau dies zwingt zum differenzierten Blick, zum sorgsamen Argument und zum Schutz der Verletzlichen. Diesem Grundsatz – so viel ist sicher – bleibt auch das IKG verpflichtet.
Nebenbei bemerkt: Die Täterin von Siegen wurde von drei Menschen mit Migrationshintergrund gestoppt. Aber das tut eigentlich nichts zur Sache, oder doch?
Herzlich grüßt und Gottes Segen wünscht Ihnen
Dr. Jan-Dirk Döhling
Institutsleiter und Dezernent für Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen